Werden Studierende an Hochschulen zukünftig so studieren, wie es ihren Bedarfen und Lerngewohnheiten entspricht? Und lässt sich der Erfolg des Studiums bald besser planen und absichern? Künstliche Intelligenz könnte dies möglich machen. Mit einer sehr gut besuchten Tagung zum Thema „Künstliche Intelligenz und Diversität in der Hochschulbildung“ hat die Fernuniversität Hagen am 14. November 2019 ihr virtuelles Forschungs- und Entwicklungslabor „AI-Edu-Research-Lab“ gestartet und erste Antworten auf die beiden Fragen geliefert. In Kooperation mit dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) verfolgt das ambitionierte Vorhaben vor allem zwei Ziele.

  • Zum einen soll KI „individuelles Lernen im Sinne einer digitalen Assistenz unterstützen: Mit Fähigkeiten oder Funktionen, die helfen Probleme zu lösen, zu planen oder Empfehlungen für Lernstrategien zu geben“, wie es die Projektleiterin, die Hagener Prof´in Claudia de Witt beschreibt.
  • Die zweite Zielsetzung nimmt den Studienverlauf insgesamt in den Blick. Auf den Grundlagen des Education Data Mining sollen die relevanten Faktoren für den Studienerfolg identifiziert werden, um in einer Art studienbegleitendem Monitoring durch KI-Unterstützung den Lernenden Hilfestellung auf dem Weg zu einem effizienten Studienverlauf und einem erfolgreichen Studienabschluss zu geben. Ziel ist unter anderem, die Zahl der Studienabbrecher deutlich zu verringern.

Prof. Friedrich W. Hesse, Leiter des übergeordneten Forschungsvorhabens „Diversität, Digitalisierung und lebenslanges Lernen“ an der FU Hagen machte dazu deutlich, dass gerade an der Fernuniversität besonders günstige Voraussetzungen für diesen Ansatz gegeben sind: „Wir haben die höchste Diversität innerhalb der Studierendenschaft. Wir sind die größte Hochschule Deutschlands und eine Institution mit vielen, bereits vorhandene digitalen Spuren, auf denen sich Lernen verfolgen lässt.“ Während es in diesem Bereich des „Data Minings“ schon eine Reihe von Vorhaben gibt (etwa an der Arizona State University mit dem eAdvisor), steht die Entwicklung einer persönlichen digitalen Lern-Assistenz auf Basis der KI noch am Anfang.

Leitlinien für einen „Digitalen Lernassistenten“

Der in Zusammenarbeit mit dem DFKI Educational Technology Lab unter Leitung von Prof. Dr. Niels Pinkwart zu entwickelnde Lern-Assistent soll als sogenanntes Recommending System [n], Empfehlungen geben, die sich direkt auf den jeweiligen individuellen und aktuellen Lernprozess beziehen. Basis dafür sollen in der jeweiligen fachlichen Domäne verankerte Expertensysteme sein (Ontologie-basiertes Domänenmodell), die im Verbund mit dem entsprechenden Didaktikmodell und dem Lernenden Modell als zukunftsorientierte Weiterentwicklung der intelligenten tutoriellen Systeme angesehen werden.

In einem der Tagung vorgelagerten Interview gab Claudia de Witt Auskunft darüber, welche konzeptionellen Überlegungen in die Entwicklung des digitalen Lern-Assistenten einfließen werden:

  • Zum Aspekt des selbstverantwortlichen Lernens als wesentliche pädagogische Zielsetzung: „Es geht ja nicht nur darum, sich Fachwissen anzueignen, sondern auch darum zu erkennen, wie man aus seinem Wissen ein eigenes Erkenntnisinteresse entwickeln kann. Wo fange ich an? Wie strukturiere ich für mich die Inhalte so, dass ich einen guten Überblick gewinne? Dass ich mir wichtige Grundbegriffe merken und zentrale Zusammenhänge erschließen kann?“
  • Zur konzeptionellen Orientierung: „Auf dieser individuellen Ebene wollen wir ein wissensbasiertes Expertensystem einsetzen, mit dem kognitive Lernstrategien, wie Wiederholen oder Elaborieren und metakognitive Lernstrategien wie Planen oder Self-Monitoring gefördert werden. Als Vorbild für einen solchen digitalen Assistenten dient mir immer noch der Knowledge Navigator, den Apple schon 1987 als Prototypen entwickelt hat.“
  • Zur technischen Umsetzung: „Um wissensbasierte Expertensysteme zu entwickeln, braucht es zunächst menschliches Expertenwissen darüber, wie ein Fach – man sagt auch eine Domäne – aufgebaut ist. Dieses Wissen wird strukturiert und in einem so genannten Domänenmodell beschrieben. Damit wird eine Wissensbasis geschaffen, auf die ein intelligentes System zugreifen und entsprechend dem individuellen Wissensstand eines Studierenden und der didaktischen Grundlegung Empfehlungen formulieren kann. Man spricht hier auch von Recommender-Systemen.“

Eine bisher im Kontext von Vorhaben der KI-basierten Lehr-/Lernsysteme eher selten formulierte Orientierung gibt dem Hagener Ansatz eine besondere Qualität: Wichtig erscheint den Forschern der Gedanke, dass die KI-basierte Lerntechnologie nicht die Lernerautonomie beschränkt oder gar die Lernenden gängelt (Stichwort „Nudging“), sondern dass vielmehr die Selbstverantwortung für das eigene Lernen möglichst noch gestärkt wird.

Die Projektleiterin bringt es auf den Punkt: „Es ist uns wichtig herauszufinden, wie mit Unterstützung Künstlicher Intelligenz die Selbstverantwortung für das eigene Lernen der Studierenden beibehalten oder sogar gefördert werden kann. Denn man kann ja auch die Befürchtung haben, dass je mehr Unterstützung die Studierenden bekommen, umso weniger Eigenleistung dann noch nötig ist.“ Die explizite Betonung der Lernerautonomie als Entwicklungsziel der Lern-Assistenz ist bisher eher selten und macht dieses Vorhaben in besonderem Maße interessant. Einmal, weil Lernen in der Perspektive der Wissensarbeit (OECD) in besonderem Maße die Selbststeuerung der Lernenden voraussetzt. Zum anderen dominieren bisher in den Anwendungsbereichen von Learning Analytics und Adaptive Learning Konzepte der Personalisierung, die in der Regel eine enge Hinführung auf vorgegebene Aufgabenlösungen vorsehen.

Neue Marschrichtung: Lerninteressen und Lernstrategien der Studierenden erkennen und unterstützen

Dabei sind es gerade die Fragen, die sich nicht leicht oder eindeutig beantworten lassen, die heute in der „VUCA-Welt“ , in der so vieles unberechenbar (volatile), unsicher (uncertain), kompliziert (complex) und mehrdeutig (ambiguous) erscheint, die tatsächlichen Herausforderungen bestimmen. Entscheidungen, Problemlösungen und kompetentes Handeln in solchen Situationen verlangt vor allem das, was Kant schon im Jahr 1784 so formuliert hat: „Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“

Hierin lässt sich auch der Unterschied in den Zielsetzungen zwischen Personalisierung und Individualisierung im Kontext der Entwicklung von Technologien der Lern-Assistenz verdeutlichen. Personalisierung im Zusammenhang mit dem Einsatz von Learning Analytics und Adaptive Learning geht überwiegend von vorgegebenen Lernzielen und entsprechenden oft kleinschrittigen Lernaufgaben aus und versucht, durch eine Vielzahl von Micro-Tests den Lernprozess so zu analysieren, dass sowohl Aufgaben wie Lernmethoden zunächst variiert und im Verlauf dann auch im Blick auf den angestrebten Lernerfolg für den Lernenden optimiert werden können. Für Lernbereiche, die sich gut durch regelbasiertes Lernen erschließen lassen, ist dies ein bereits bewährter Ansatz, wie etwa die Mathematik-Lernsoftware Bettermarks oder das methodisch variantenreiche Vorgehen in der „School of one“ in New York zeigen.

Anders verhält es sich bei komplexeren und offeneren Aufgabenstellungen, die vorwiegend über konzeptbasiertes Lernen zu erschließen sind. Um bei solchen, für realitätsnahe Problemstellungen eher typischen Anforderungen und Aufgabenformaten verständnisintensives Lernen zu ermöglichen, sind Lernprozesse – entsprechend den Ansätzen aus konstruktivistischer und konnektivistischer Didaktik – als stark individuell bestimmte eigenaktive Wissenskonstruktion anzusehen und entsprechend zu unterstützen (vgl. dazu Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): „Die Zukunft des Lernens„, S. 9 f.)

Learning Analytics müsste also das individuelle, konkrete und inhaltsbezogene Bemühen des oder der Lernenden um Verständnis in der Sache erfassen können und zwar im Fortgang der Aufgabenbearbeitung bis hin zu einem Konzept bzw. Lösungsansatz. Wie die Externalisierung dieser weitgehend eigenverantwortlichen selbstorganisierten und und insbesondere verständnisintensiven kognitiven Prozesse so gelingen kann, so dass valide und durch Algorithmen von Learning Analytics Systemen auswertbare Daten verfügbar  sind, dürfte noch weitgehend ungeklärt sein. Vermutlich  sind dafür – für die Unterstützung der individuellen Prozesse des konstruktiven Wissenserwerbs – konstruktiv-generische Lern- bzw. Wissenswerkzeuge in den Händen der Lernenden erforderlich. Eine Spur, der die Entwicklung derartiger Lernwerkzeuge folgen kann, könnte eventuell die Orientierung an Sotwaretools wie Concept Maps oder Mindmaps sein. Der im Hagener Projekt präferierte Einsatz von Recommender Systemen kann sich, wenn die Externalisierung der kognitiven Prozesse gelingt, als besonders geeignet für die Individualisierung des Lernens und damit für die individuelle Förderung der Lernenden erweisen.

Man darf also erwarten, dass die im AI-Edu Research Lab in den kommenden drei Jahren der Projektlaufzeit zu erarbeitenden Erkenntnisse über die Einsatzformen und Perspektiven der persönlichen digitalen Lern-Assistenz auf Basis der künstlichen Intelligenz interessante Orientierungen und Ergebnisse erbringen wird – Anregungen, die auch für andere Einsatzfelder wie Corporate Learning oder den Einsatz von Learning Analytics etwa im Kontext der Schulcloud weiterführend sein können. Es lohnt sich gewiss, dieses Vorhaben weiter zu verfolgen.

Von: Michael Toepel