Unter dem Titel „Beauty statt Bildung“ veröffentlichte ich vor knapp zwei Jahren eine ernüchternde Bilanz der Gründungs- und Finanzierungsdynamik im deutschen EdTech-Bereich. In den Portfolios der führenden Investoren fanden sich damals nur sehr vereinzelt junge Bildungsunternehmen und Start-ups. Wie ist die Situation heute – was hat sich etwas getan?
Um es vorweg zu nehmen: Es hat sich nicht viel verändert, schon gar nicht zum Positiven. Laut aktuellem EY-„Start-Up-Barometer“ ist zwar sowohl das Start-up-Finanzierungsvolumen insgesamt (plus 7 Prozent) als auch die Anzahl der Finanzierungsrunden (plus 22 Prozent) zwischen 2017 und 2018 angestiegen; im EdTech-Segment ist der Trend aber gegenläufig: Während 2018 gerade einmal drei „EdTechs“ mehr finanziert wurden als 2017 (14 statt 11), ging das Investitionsvolumen im Vergleich zum Vorjahr um satte 40 Prozent auf 43 Mio. Euro zurück. Zum Vergleich: Insgesamt wurden hierzulande in 2018 4,6 Mrd. Euro in Start-ups investiert. Allein die FinTechs (konnten sich über 676 Mio, Euro Venture Capital sichern, in eCommerce-Start-ups flossen sogar über 1,6 Mrd. Euro. Nur ein Bereich rangiert in Deutschland noch hinter EdTech, nämlich „AgTech“ (Agrartechnologische Startups).
Halten wir also fest: Nicht einmal 1 Prozent der Start-up-Investitionen in Deutschland geht in junge Bildungsunternehmen! Dabei sind laut Deutschem Start-Up-Monitor von KPMG immerhin knapp 4 Prozent aller Start-ups hierzulande dem Bildungsbereich zuzuordnen. Angesichts der Verheißungen digitaler Bildungstechnologien und der breiten öffentlichen Diskussion darüber, insbesondere mit Blick auf „Digital-Pakt“ und „Schul-Cloud“, ist dies ein durchaus bedrückender Befund. Doch wie lässt er sich einordnen, erklären, begründen?
Vergleichende Einordnung
43 Mio. Euro Venture Capital für EdTechs hierzulande stehen im Kontrast zu über 200 Mio Euro, die alleine in Großbritannien im vergangenen Jahr investiert wurden. In Gesamt-Europa wurden im selben Zeitraum ca. 616 Mio Euro in EdTechs investiert. Somit vereinen alleine die 1.200 britischen EdTech-Unternehmen etwa ein Drittel des europäischen Venture Capitals für Bildung auf sich. Die deutschen Bildungs-Start-ups erhalten demgegenüber gerade einmal 6 Prozent der Investitionen in Europa. Wenngleich solche Zahlen und Vergleiche naturgemäß mit gewissen Unschärfen verbunden sind, zeigen sie doch die Größenverhältnisse.
Das gilt erst recht mit Blick auf die globalen EdTech-Investitionen: Die private Bildungsberatung HolonIQ konstatiert für das Jahr 2018 eine Verdoppelung der weltweiten EdTech-Investments im Vergleich zum Vorjahr: auf insgesamt 6 Mrd. US-Dollar – etwa zwei Drittel davon entfallen auf chinesische Start-ups. Alleine im Juli 2018 wurde demnach weltweit über eine Milliarde US-Dollar in EdTechs investiert, davon in China 600 , in den USA 300 und in Indien 120 Millionen. In den vergangenen 5 Jahren flossen laut HolonIQ weltweit ca. 15 Mrd. US-Dollar in EdTechs, wobei die Investitions-Dynamik in den letzten beiden Jahren stark zugenommen hat. Notieren wir also gedanklich: Allein im Juli 2018 wurde in China ungefähr dieselbe Summe in EdTechs investiert wie in ganz Europa im ganzen Jahr!
Wofür sich Investoren und VCs interessieren
Audrey Waters hat kürzlich in ihrem Hackeducation Blog eine Übersicht der globalen aus China EdTech-Investments zusammengestellt: Demnach liegen sogenannte Tutoring-Services an der Spitze der VC-Aktivitäten. Die Unternehmen heißen z.B. Zuoyebang, BYJU’s, VIPKID oder 17zuoye und bieten Schülern oder Studenten gezielten Support, um kritische, in China oftmals karriereentscheidende Prüfungen wie den berüchtigten Gaokao möglichst gut zu bestehen. Übrigens spielen in diesen Geschäftsmodellen moderne Technologien wie Künstliche Intelligenz eine weit kleinere Rolle als nebenberuflich beschäftigte Lehrkräfte in Callcentern. Tutoring-Services und Prüfungstrainer sind zwar auch jenseits von China im Kommen, allerdings nicht als dominanter Trend. Andernorts reüssieren vielmehr Sprachlernangebote, Education Apps und nicht zuletzt Online-Kursanbieter und Video-Lecture-Plattformen wie Coursera, Udemy oder „Udacity“. Auch adaptive Mathematik-Trainer wie DreamBox Learning (ähnlich etwa dem deutschen „Bettermarks“) und Anbieter von Schulverwaltungs-Software oder anderer Services rund um die Organisation und Finanzierung von Bildungsdienstleistungen konnten in den vergangenen Jahren nennenswert Venture Capital akquirieren.
EdTechs in Deutschland?
Es ist nicht ganz einfach, in Deutschland überhaupt VC-finanzierte EdTechs zu identifizieren. Nach wie vor finden sich kaum Bildungs-Start-ups in den Portfolios unterschiedlicher Gründungsfinanzierer wie Hub:Raum, bmp oder Holtzbrinck Ventures. Bei letzterem werden genau 3 der 157 finanzierten Start-ups dem Bereich Education zugerechnet (immerhin zwei mehr als vor zwei Jahren). Für Project A – ein 2012 in Berlin gegründeter, in eigenen Worten „unkonventioneller“ VC – ist das EdTech-Segment trotz bekundetem Interesse bislang ebenfalls eher nebensächlich: Gerade zwei von 59 finanzierten Unternehmen kommen dort aus dem Bildungsbereich. Auch die EdTech-Gruppe im Bundesverband Deutsche Startups e.V. scheint deshalb in den letzten Jahren nicht nennenswert gewachsen zu sein: Nach wie vor engagieren sich hier um die 30 Education-Start-ups, wobei manche größeren Anbieter wie Sofatutor oder Lecturio inzwischen kaum mehr als solche zu bezeichnen sind. Halten wir also fest: EdTechs in und aus Deutschland sind – wie bereits vor zwei Jahren – bei den einschlägigen Investoren weiterhin ein absolutes Nischenphänomen.
Erklärungsversuche für den Rückstand in Deutschland
Svenia Busson, eine der besten Branchen-Kennerinnen in Europa, konstatiert für alle EdTechs auf der Welt ähnliche „pain points”: “the complexity of addressing their market and education stakeholders (educators, school leaders, deans), the difficulty to understand mechanisms of learning and to design products for learning purposes.” Wenn aber die Herausforderungen überall vergleichbar sind, weshalb performen dann die EdTechs in Großbritannien – jedenfalls aus Sicht der VCs – deutlich besser als in Deutschland, Spanien oder Österreich?
Auf einen wichtigen Aspekt wies vor kurzem „The Guardian“ hin: Der Britische Bildungsbereich – insbesondere das Schulsystem – sei in Sachen Digitalisierung deutlich weiter als in anderen Ländern. Programmieren ist seit einigen Jahren schon in der Grundschule Pflichtprogramm. Englische Schulen geben pro Jahr 900 Mio. Pfund für Educational Technologies aus – möglicherweise können also die britischen EdTechs genau davon profitieren? Ein anderer Aspekt könnte darin liegen, dass privat finanzierte Bildungseinrichtungen aufgeschlossener für digitales Lernen sind als staatliche Organisationen. Darauf lässt jedenfalls ein Befund aus dem Monitor Digitale Bildung (Weiterbildung) schließen, wonach die privaten Weiterbildungsanbieter in Deutschland in Sachen Digitalisierung deutlich vor den öffentlichen Einrichtungen rangieren. Schließlich dürfen zwei weitere Faktoren nicht übersehen werden: Erstens ermöglicht der globale englischsprachige Bildungsmarkt den EdTechs deutlich größere Skaleneffekte als der deutschsprachige; zweitens erschwert die mangelnde Autonomie der deutschen Schulen in Sachen Lehrmaterial-Beschaffung den Markteintritt für junge Bildungs-Start-ups hierzulande.
Mit Sicherheit spielen freilich auch die Kosten eine erhebliche Rolle, wenn es um die Nutzung digitaler Lernlösungen geht: Das zeigt nicht zuletzt der Erfolg der (z.T. kostenlosen) MOOC-Plattformen in den akademischen Bildungsmärkten der USA, Lateinamerikas und Asiens. Überbordende Kosten im Bildungsmarkt wie in den USA, mangelhafte (analoge) Infrastruktur wie in Schwellen- und Entwicklungsländern sowie ineffiziente unzeitgemäße Bildungsangebote erhöhen den Leidens- und Handlungsdruck und damit auch die Chancen für disruptive Neugründer überall auf der Welt – auch in Deutschland. Junge und erfolgreiche Bildungsunternehmen hierzulande, wie etwa SimpleClub oder Math 42, Amboss, Fobizz oder neocosmo bedienen, manchmal auch bewusst ohne Venture Capital, allerdings überwiegend einen Markt jenseits staatlicher Institutionen, z.B. im Bereich der Corporate Education, beim lebenslangen Lernen oder auf dem außerschulischen „Nachmittagsmarkt“. Da kaum zu erwarten ist, dass sich die EdTech-Marktpotenziale im institutionellen Bildungsbereich auf mittlere Sicht nennenswert erhöhen, werden auch die Investoren in diesem Segment entsprechend zurückhaltend bleiben.
EdTech fördern, aber wie?
Aus meiner Sicht wären kurzfristig zwei Maßnahmen unabdingbar, wenn man nicht hinnehmen möchte, dass Bildungsinnovationen vor allem außerhalb Deutschlands entstehen und gedeihen:
- Zunächst halte ich es für grundlegend notwendig, den EdTech-Bereich in Deutschland überhaupt einmal explizit in den Blick zu nehmen und ihn empirisch zu vermessen: Welches sind die Player und Akteure, Geschäftsfelder und Technologien? Wie sehen die wichtigsten Kennziffern aus? Woran scheitern EdTechs in Deutschland? Welche Erfolgsfaktoren sind festzustellen? Bildungstechnologien und EdTech stehen leider – entgegen aller politischen Rhetorik – deutlich im Schatten anderer Branchen und Themen (FinTech, KI etc.), dabei handelt es sich hier um ein gesellschaftlich und politisch hochgradig relevantes Segment.
- Daneben wäre es meines Erachtens sinnvoll, den EdTech Bereich hierzulande durch gezielte Supportprogramme, Inkubatoren, Wettbewerbe sowie einschlägige Vernetzungs- und Präsentations-Plattformen zu fördern. Dies könnte nach österreichischem Vorbild geschehen, wo eigens eine „Innovationsstiftung für Bildung“ gegründet wurde, oder auch nach Schweizer Vorbild, wo Ende 2017 zehn vielversprechende EdTechs vom dortigen Kickstart Accelerator – einer Initiative von digitalswitzerland – zur Förderung ausgewählt wurden, um im Coworking-Space des EdTech Collider in Lausanne ein intensives 11-wöchiges Programm zu durchlaufen. Die Start-ups erhielten außerdem direkten Zugang zu potentiellen Partnerunternehmen und Investoren.
Die strukturellen (föderalen) Rahmenbedingungen des Bildungsmarktes in Deutschland werden sich weder mittel- noch langfristig ändern. Umso notwendiger wäre es deshalb, dass sich die verantwortlichen Akteure des öffentlichen Bildungssystems künftig viel enger mit den Innovationstreibern aus Start-ups vernetzen und gemeinsam an modernen Bildungsangeboten arbeiten, die echte Bedarfe der Praxis adressieren.
Von: Dr. Ulrich Schmid
Dieser Beitrag ist zuerst auf www.digitalisierung-bildung.de erschienen.