Wie schon in früheren Jahren blicken wir auch 2022 zurück auf die Erkenntnisse und Erfahrungen zum Lernen mit digitalen Medien, die uns in der Arbeit in unseren Projekten wichtig erscheinen. Die drei Themen, die sich in diesem Jahr herauskristallisiert haben, werden im mmb-Team durchaus kontrovers eingeschätzt. Deshalb haben wir für diesen Blogbeitrag zu unseren Thesen jeweils einen Pro- und einen Contra-Beitrag verfasst.

1. „Rolle rückwärts“ nach der Pandemie

Pro (Julia Hense): Neulich saß ich seit langer Zeit mal wieder in der Bahn und war unterwegs zu einem Präsenztermin. Dabei wurde mir bedingt durch das inzwischen unvermeidliche Chaos, wenn man mit dem Zug unterwegs ist, sehr bewusst, wie lange ich nicht regelmäßig Zug gefahren war. Vor der Corona-Pandemie wäre das undenkbar gewesen. Da war ich ganz selbstverständlich unterwegs zu Terminen, Messen, Besprechungen. In den letzten zwei Jahren – gar nicht.

Aber so langsam geht es wieder los mit der viel gelobten Präsenz. Und ich frage mich, ob das wirklich so eine gute Idee ist. Haben wir nicht die letzten zwei Jahre über genug Zeit gehabt, uns mit digitalen Arbeits- und Lernformen vertraut zu machen? Haben wir nicht unter Beweis stellen können, dass remote zu arbeiten und zu lernen nicht unproduktiver sein muss, sondern manchmal sogar effektiver sein kann? Zeigt das aktuelle Chaos nicht, dass es durchaus Sinn machen kann, dabei zu bleiben, anstatt jetzt eine Rolle rückwärts hinzulegen?

Freilich gibt es Situationen, in denen Menschen real zu treffen die bessere Wahl ist. Und es lässt sich nicht alles digitalisieren. Aber diese Rückwärtsbewegung, die ich aktuell allerorten wahrnehme, scheint mir weniger aus einer reflektierten und differenzierten Haltung heraus zu geschehen, als vielmehr aus einer alten Gewohnheit, vielleicht gemischt mit Machtmotiven oder wenigstens einem beherzten „Das haben wir aber doch immer so gemacht“.

Mit genau diesem Ansatz werden wir aber nicht weiterkommen, sondern schlicht die alten Fehler wieder ausmotten, von denen ich annahm, dass wir sie endgültig in eine Kiste verbannt hätten, und auf der Stelle treten. Aber gut, vielleicht ist das ja der letzte Versuch, etwas zurückzuholen, das sich nicht zurückholen lässt, bevor wir uns dann doch wieder konstruktiv und differenziert mit der Frage beschäftigen, wie wir die Vorteile der Digitalisierung nutzen und die Nachteile minimieren können.

Contra (Katja Buntins und Monica Hochbauer): Mein Kind in der zweiten Klasse hat jetzt ein iPad. In der Hochschule werden viele Vorlesungen online gehalten. Wenn ich eine Trainer:innenbesprechung habe – klar über Zoom. Auch arbeite ich national und international mit Kolleg:innen zusammen. All dies wird so gemacht, weil es so funktioniert – entweder besser oder einfach effizienter. Auch geht mein Sohn regelmäßig zur Schule – spielt dort, matscht mit Farbe rum und spielt Fußball in der Pause. Seminare an der Uni werden online gehalten, wenn es darum geht, gemeinsam Dinge auszuprobieren oder der Kontext komplex ist. Natürlich trainiere ich die Kids auf dem Platz – sehe, wie sie laufen, korrigiere sie, indem ich etwas vormache oder ihre Haltung korrigiere. Und natürlich treffe ich mich mit Kolleg:innen, wenn es gerade passt.

Aber ich bin gar nicht repräsentativ. Große Teile unserer Welt funktionieren analog. Ein Gespräch mit Jugendlichen im Jugendhilfesystem bringt viel mehr, wenn man Spiegelneuronen durch alle Sinne aktivieren kann. Eine Mutter mit einem ständig kranken Kind muss ins Büro fahren, da der Vater sich zu Hause um das kranke Kind kümmern muss. Und irgendwo in der Lüneburger Heide reicht die Netzverbindung gar nicht aus, um zwei Personen Home-Office zu ermöglichen. Dies ist keine Rolle rückwärts – sondern reiner Pragmatismus.

Digitalisierung in postpandemischen Zeiten orientiert sich recht pragmatisch und zielorientiert an dem, was möglich und sinnvoll ist. Möglich ist Digitalisierung nur da, wo es eine entsprechende Infrastruktur gibt. Sinnvoll ist sie nur da, wo sie Probleme löst und nicht Distanz schafft. Dies heißt konkret: Es wird digital gearbeitet, wo es für das Team passt. Es wird digital gelernt, wenn es das Lernen anders und besser macht. Dies ist eine Veränderung – eine Veränderung, durch die Analoges und Digitales verschränkt wird und die sich an dem orientiert, was geht. Dass mehr gehen würde, wenn es eine bessere digitale Infrastruktur geben würde, steht außer Frage.

2. „Hybrid funktioniert“ – eine neue Qualität von Webinaren, Präsentationen und Workshops

Pro (Lutz Goertz): Zu Beginn der Corona-Pandemie wurden Bildungsveranstaltungen wie Webinare, Konferenzen, Besprechungen in Lerngruppen zwangsläufig auf Online-Betrieb umgestellt. Nach einer gewissen Eingewöhnungsphase klappte der Umgang mit diesen auch verblüffend gut. Doch dann kamen die ersten Lockerungen – und mit ihnen bei einem Teil der Beteiligten der Wunsch, Meetings auch wieder in Präsenz durchzuführen. Andere zogen es hingegen vor, die Veranstaltungen weiter aus dem Home-Office zu verfolgen, z.B. um der Ansteckungsgefahr zu entgehen oder einfach, weil sie die Reisezeit lieber anderweitig nutzen wollten. Für Veranstalter wurde dies oft zur Quadratur des Kreises.

Um es beiden Gruppen recht zu machen, wurden deshalb Lernveranstaltungen „hybrid“ durchgeführt: Eine Gruppe verfolgte das Lernangebot im Präsenzraum, eine andere im Home-Office oder am eigenen Arbeitsplatz, ja sogar im Ferienhaus (“Workation”). Doch damit begannen die Probleme: Jeweils eine der beiden Gruppen schaute immer ins Rohr – entweder wurden externe Teilnehmende trotz wilden Gestikulierens nicht bemerkt oder die im Präsenzraum Anwesenden wurden zu bloßen Statisten des Webmeetings.

Doch bei den Veranstaltungen, an denen ich im Laufe des Jahres 2022 teilgenommen habe, hat sich die Qualität von “Hybrid” deutlich verbessert. So kam auf dem Bielefelder “EdTech Next Summit” keine der beiden Gruppen mehr zu kurz. Dies lag unter anderem an der Professionalisierung der Veranstalter: Sie haben aus früheren Erfahrungen gelernt und sich Unterstützung von professionellen Medienleuten geholt, die Tagungen und Vorträge vor großem Publikum organisieren. Doch auch für „kleine“ Bildungsformate hat sich die Technik verbessert: Bei einem  Forschungsworkshop zum Thema “Upskilling” für Bedienstete des Landes NRW wurden externe Teilnehmende auf einem Interactive Whiteboard hinzugeschaltet und waren so für alle sichtbar. Zum Einsatz kam auch ein kombiniertes System aus 360-Grad-Kamera, Mikrofon und Lautsprecher, das darüber hinaus in der Form einer stilisierten Eule sehr dekorativ wirkte. Hierdurch waren die Veranstalter in der Lage, alle Teilnehmenden im Raum aufzunehmen und automatisch auf die sprechenden Personen zu zoomen. Über den Lautsprecher waren alle „Externen“ gut zu hören. Eingebürgert hat sich für hybride Formate auch eine Assistenzfunktion, die Meldungen und Chatbeiträge schnell an die Moderation weitergibt.

Das heißt: Hybrid-Veranstaltungen müssen also in Zukunft niemanden mehr abschrecken, oder doch?

Contra (Berit Blanc): Endlich wieder eine Tagung „in echt“! Echte Menschen mit Beinen. Echtes, sicht- und hörbares Lachen, Protestieren, Fragen, Hinwegdämmern. Echte Stehtischgespräche, echte, spontane Grüppchenbildung, echtes Erkunden einer echten Umgebung… Das waren meine vorfreudigen Erwartungen bei der Anreise zur AIED2022 im englischen Durham. Doch das gutgemeinte, es allen rechtmachen wollende Hybridkonzept kam meinem beruflichen Highlight des Jahres gehörig in die Quere.

Schon die im „Pro Hybrid“-Beitrag gepriesene Professionalisierung hinsichtlich 360-Grad-Kamera, guter Hör- und Sichtbarkeit und gut moderierter Diskussionen war im Kontext der renommierten internationalen Fachtagung nicht zu erkennen. Man sollte meinen, dass nach mehr als zwei Jahren unzähliger Online-Meetings und -Vorträge die Lektionen des guten Präsentierens gelernt sind oder zumindest von den Veranstaltern im Vorfeld getestet wurden. Doch für mich als Vor-Ort-Teilnehmerin waren Online-Vorträge meistens schlichtweg anstrengend:

  • Die Online-Vortragenden waren nach Einblendung ihrer Präsentation nur mehr zu hören – und das zudem teilweise schlecht. Selbst bei der Diskussion blieb zumeist die Präsentation auf der riesigen Vorlesungsleinwand eingeblendet und man hätte auch eine Telefonkonferenz durchführen können.
  • Instabile Internetverbindungen beeinträchtigten fast alle Vorträge. Das hatten nicht wenige Online-Teilnehmer:innen offenbar bereits geahnt: Sie ließen Videos ihrer Vorträge abspielen. Dafür war ich nach Durham gereist?
  • Die Vor-Ort-Vortragenden wiederum hatten es offenbar zum großen Teil verlernt, vor einem Live-Publikum zu präsentieren. Sie starrten auf ihre Laptops, als wären die Kolleg:innen – wie halt sonst immer – im Home-Office.
  • Eine zusätzliche Herausforderung durch den hybriden Tagungsmodus war der häufige Wechsel von Online- und Vor-Ort-Präsentationen innerhalb einer Session. Man musste nicht nur den „Themenkanal“, sondern gleichzeitig auch die Sinneskanäle ständig neu justieren, was der Konzentrationsfähigkeit nicht gerade zuträglich war.

Wie es Online-Teilnehmenden erging, kann ich im Fall der AIED2022 nur annehmen. Aber da ein Zoom auf die Gesichter gerade sprechender Personen vor Ort nicht realisiert wurde, gab es für Online-Präsentierende keine Möglichkeit die Atmosphäre, nonverbale Zustimmung oder Ablehnung oder Fragezeichen in den Gesichtern des Publikums wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Gleiches gilt natürlich auch für Online-Meetings, in denen die Kameras ausgeschaltet sind. Aber das ist ein anderes (für mich ärgerliches) Thema des Jahres.

Diesem Hybrid-Tagung-Bashing steht natürlich und gewichtig gegenüber, dass der Hybrid-Modus ressourcenschonend die internationale Teilhabe ermöglicht. Eine „Rolle rückwärts“, zu reinen Präsenztagungen sollte daher auch hier nicht ausgeführt werden. Für mich bleibt zu hoffen, dass die vom geschätzten Kollegen Lutz Goertz wahrgenommene Professionalisierung der Veranstalter auch für Tagungen Wirklichkeit wird.

3. Künstliche Intelligenz wird fester Bestandteil des Lernens (in der Schule)

Pro (Michael Toepel): These: Die Jahre bis 2030 werden eine zunehmende Integration von KI-Komponenten in Medien, Werkzeuge und Plattformen für digital unterstütztes Lernen und Lehren bringen.

Perspektivisch werden sich, wie unsere aktuelle Trendstudie zeigt, insbesondere zwei – aufeinander bezogene – Grundlinien der weiteren Technologieentwicklung herausbilden:

a) die intelligente Lerncloud als Infrastruktur auf Landes-, Schulträger- oder gar Schulebene
b) der Learning Companion als persönliche Lern-Assistenz für die Lernenden.

Im Blick auf die dynamische Ausbreitung von Anwendungen der künstlichen Intelligenz stellt sich die grundsätzliche Frage: Was und wie werden wir lernen, wenn digitale Systeme mit künstlicher Intelligenz immer mehr immer besser wissen und können?

Die Chance, die mit den absehbaren Entwicklungen einhergehen könnte, liegt aus pädagogischer Sicht im Paradigmenwechsel von der lehrerzentrierten Wissensvermittlung zum Wissenserwerb, dessen Zentrum die Lernenden sind. Es geht um eine Zukunft, die individuelle Potenzialentfaltung wichtiger nimmt als kleinteilig vorgegebene Lernstandards und selektives Prüfen. Protagonisten der Forschungsrichtungen Learning Analytics und Adaptive Learning versprechen einen Durchbruch für selbstreguliertes Lernen und individuelle Förderung. Bei der Nutzung der KI für schulisches Lernen solle es vor allem um ein Verständnis von Adaptivität gehen, das sich nicht nur an vorgegebenen Lerninhalten orientiert, sondern Schülerinnen und Schülern hilft, ihre Interessen zu verwirklichen und dabei ihre Potenziale zu entfalten. Man wird sehen, ob auch hierzulande Technologien für das Lernen entwickelt und eingesetzt werden können, um diese und ähnliche Ziele zu erreichen.

Contra (Katja Buntins und Berit Blanc): Lernen funktioniert in Deutschland im Mittel nicht gut. Die meisten erwachsenen Menschen können Geschichten erzählen, wo sie in ihrer Bildungslaufbahn negative Erfahrungen gemacht haben. Meistens war das System nicht passend für sie – es war nicht schnell, zu schnell, nicht konkret genug oder zu wenig vertieft. Wenn viele Personen in der Bildung einen Wunsch an den Weihnachtsmann haben könnten, wäre dies wohl, dass das Lernen personenzentrierter, individuell zugeschnittener sein sollte. Und das mit gutem Grund: Die OECD bescheinigt Deutschland regelmäßig, dass es keine gute Binnendifferenzierung gibt. Künstliche Intelligenz in der Bildung wirkt an dieser Stelle oft wie der Heilsbringer.

Was in dieser Geschichte aber oft vergessen wird, ist: Lernen ist komplex – wahnsinnig komplex. Wir wissen in vielen Bereichen nicht wie es funktioniert, wie Lerninhalte aufeinander aufbauen, kognitiv verarbeitet werden und so neuronal vernetzt werden, dass ein Transfer möglich ist. Neuropsychologisch wissen wir faktisch nichts über diesen Bereich. Aber Lernen ist nicht nur komplex, sondern es funktioniert bei Menschen sehr unterschiedlich. Und die Forschung ist weit davon entfernt zu verstehen, woran dies liegt – auch wenn wir KI in Form von komplexer Statistik und Data Mining Ansätzen verwenden, finden wir keine großen stabilen Effekte. In großangelegten experimentellen Bildungsstudien wird z. B. der Lernerfolg zwischen Gruppen verglichen, die mit und ohne KI-Anwendungen lernen. Dabei zeigt sich, dass „Lernen mit KI“ weder zu einem erkennbar größeren Lernerfolg führt noch sich die geringe Wirkung zufriedenstellend wiederholen lässt.

Wenn man nun die aktuellen Möglichkeiten und Anwendungen von Künstlicher Intelligenz genauer betrachtet, sieht man nicht nur, dass sie nicht nur am Anfang ihrer Entwicklung steht, sondern in den meisten Fällen nur komplexe Statistik ist. Mit komplexer Statistik können wir aber, wie oben beschrieben, nicht erklären, wie Lernen funktioniert. Eine gezielte und ethisch vertretbare Beeinflussung ist somit in den seltensten Fällen möglich. Dennoch fließen gerade Milliarden Euros in die Anwendungsforschung von KI in der Bildung. Wir glauben, dass dahinter dieser so große Wunsch steht, Bildung besser zu machen – und besser meint hierbei bildungsgerechter, zielgenauer und/oder effizienter. Und wir verstehen diesen Wunsch, denn auch wir arbeiten jeden Tag viel, konzentriert und intensiv, um ein Miniteil dieses sehr komplizierten Puzzles zu entschlüsseln.

Dennoch fragen wir uns, ob der aktuelle Fokus eine gute Idee ist. Wir glauben, dass komplexe Algorithmen ein riesiges Potenzial bieten, Lernprozesse besser zu verstehen und somit Bildung besser zu machen – aber dies ist im Moment reine Grundlagenforschung. Sie lässt sich durch genug Geld, Engagement und Vernetzung beschleunigen, aber dennoch braucht sie Zeit.

Wir wünschen uns jedenfalls vom Weihnachtsmann, dass nicht der nächste technische Ansatz durch zu große Erwartungen verheizt wird. Wir wünschen uns, dass wir alle lernen, nicht zu hoffen, dass ein Ansatz, eine Technologie, eine Idee der Heilsbringer für ein sehr komplexes Problem ist. Denn egal wie gut KI-Ansätze in der Bildung werden, wir wissen, dass nicht all unsere Wünsche und Bedarfe durch KI abgedeckt werden können.

Von: Dr. Lutz Goertz, Dr. Julia Hense, Dr. Berit Blanc, Michael Toepel, Katja Buntins und Monica Hochbauer