Wenn man heute über Lernen mit Virtual Reality spricht, geht es nicht mehr um Pioniertaten und erste vorsichtige Gehversuche. Vielmehr sind in den letzten Jahren viele verschiedene Anwendungen für das Lernen in computergenerierten Umgebungen entstanden – die Angebote in der Aus- und Weiterbildung decken unterschiedlichste Berufe und Themen ab. Auch die Technik wurde deutlich weiterentwickelt – viele Nutzer*innen können intuitiv eine VR-Brille und Controller bedienen ohne dass es einer längeren Einweisung bedarf.
Doch aus der Perspektive von Menschen mit einem körperlichen oder kognitiven Handicap zeigen VR-Systeme noch Unzulänglichkeiten, die das Lernen mit Virtual Reality erschweren. Dies zeigt eine Erprobung im Rahmen des BMBF-Förderprojekts „Inklusion in der Produktion (InProD2)“.
Auszubildende mit Behinderung erkunden Offset-Druckmaschine
Das Projekt InProD2 verfolgt das Ziel, bereits bestehende Bildungslösungen zusammenzuführen, (teil-)automatisch sowie bedarfsorientiert aufzuarbeiten und anschließend Auszubildenden mit Behinderungen mittels einer intuitiv nutzbaren Oberfläche zugänglich zu machen. Konkret sind es in diesem Projekt angehende Fachpraktiker und Fachpraktikerinnen Buchbinderei, Medientechnologie Druckverarbeitung und Medientechnologie Druck, die im Potsdamer Oberlinhaus ihre Ausbildung absolvieren.
Im Herbst 2019 haben sie zum ersten Mal das Lernen mit einer VR-Brille ausprobiert. Mit dem System des Projekts SVL (Social Virtual Learning) konnten sie das Farbwerk einer Bogenoffset-Maschine u.a. von allen Seiten betrachten, es zerlegen und wieder zusammensetzen – Impressionen einer früheren Erprobung zeigt dieser Film (Erprobung BKO Essen). Anschließend haben sie notiert, was ihnen gut bzw. weniger gut gefiel.
Sehr positiv wurde bewertet, dass die einzelnen Walzen des Farbwerks farbig markiert waren, dass man sie zerlegen und zusammensetzen konnte und dass hierfür an einer virtuellen Pinnwand ein Bauplan angebracht war.
Schwierigkeiten mit der „Rollstuhlperspektive“
Probleme gab es hingegen beim Tragen der VR-Brille. Zwar konnte man sie leicht und passgerecht aufsetzen, aber nach einiger Zeit fingen manche Azubis an zu schwitzen und das Gewicht der Brille machte ihnen zu schaffen.
Schwierig ist die Nutzung des VR-Systems, wenn man in der Mobilität eingeschränkt ist. Eine Auszubildende mit einer angeborenen Gelenksteife ist auf einen Rollstuhl angewiesen und kann die Arme weniger als 90 Grad heben. „Die mangelnde Beweglichkeit in meinen Händen und Fingern machte es mir unmöglich, beide Cursor gleichzeitig zu bedienen, wie es vorgesehen war“, schreibt sie in ihrem Bericht.
Durch einen Rollstuhl hat man auch mit einer VR-Brille eine andere Perspektive. Für einige Aufgaben ist man „zu klein“. Immerhin bietet das SVL-System auch die Möglichkeit, sich in mehreren Metern Höhe zu bewegen. Dann muss man sich jedoch zu den Gegenständen herunterbeugen. Hier wäre eine stufenlose Höhenregulierung sinnvoller.
Teleportieren statt laufen
Schwierig ist es auch, wenn die VR-Brille – in unserem Fall eine HTC Vive – mit einem Kabel an den Rechner angeschlossen wird. Es kann leicht passieren, dass man mit dem Reifen über das Kabel fährt oder es sich im Rollstuhl verfängt. Praktisch ist es aber, dass man sich mit den Controllern „teleportieren“ kann, d.h. man kann eine Position im Raum anvisieren und sich auf Knopfdruck dorthin bewegen. Diese Funktion ist für Mobilitätsbeeinträchtigte eine Bereicherung: „Ich habe mich lieber teleportiert anstatt selbst zu laufen.“
Einige Auszubildende hatten Schwierigkeiten, sich im Raum zu orientieren. Sie fanden das Podest nicht mehr, auf dem die Maschine stand, und wussten nicht, wo sie sich befanden. „Mit einer Art Mini-Map wo ich mich befinde, bzw. ein früheres Erscheinen der blauen (Begrenzungs-)Linie hätte mir da etwas mehr Sicherheit gegeben, da ich vor allem nach einem Teleport die Relation zum echten Raum verlor“, merkt ein Auszubildender aus dem ersten Lehrjahr an. Die ins VR-Bild eingeblendeten Begrenzungslinien, die Nutzer*Innen davor schützen, gegen eine reale Wand zu laufen, erscheinen für Rollstuhlfahrer oft zu spät und sie stießen bereits gegen ein Hindernis, als die Linien auftauchten.
Bei der Portionierung der Lerninhalte kamen die Erprobungskandidaten zu dem Schluss: Lieber mehrere Module und dafür weniger Stoff pro Modul. So lässt sich die kognitive und körperliche Belastung verringern.
Fazit: Mehr auf Barrierefreiheit von VR-Systemen achten
Virtual Reality zum Lernen bietet viele Möglichkeiten für Menschen mit Handicap, Lerninhalte zu erkunden, die sie sonst nicht erreichen können. Doch auch bei Systemen zur Erzeugung der Virtuellen Realität muss mehr auf die Barrierefreiheit geachtet werden. Die aktuellen Systeme berücksichtigen überwiegend die Perspektive von Menschen ohne körperliche oder kognitive Einschränkungen – an einem „VR für alle“ müssen die Hersteller noch arbeiten. Das Projekt InProD2 wird bis zum Projektende im Sommer 2021 weiter die Barrierefreiheit des SVL-Systems optimieren.
Von: Dr. Lutz Goertz