Nahezu unvorbereitet werden die Schulen mitten in einen massiven digitalen Transformationsprozess hineingerissen. Während in vielen Unternehmen zumindest gewisse Erfahrungen mit Home-Office, Telearbeit und Online-Weiterbildung bestehen, bedeutet für die meisten Lehrer- und Schüler:innen sowie für die Schulverwaltungen der kurzfristig aktivierte 100% Digitalmodus eine mehr oder weniger komplett neue Herausforderung. Kann das funktionieren? Wie fühlt sich das Lernen im Home-Classroom an? Eine kleine „Umfrage“ in sozialen Netzen sowie im Familien- und Bekanntenkreis erbrachte Folgendes:

Schulfernsehen ist gut gemeint, bringt aber wenig

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk entdeckt zwar in der Krise seinen Bildungsauftrag neu und fährt am Vormittag so ziemlich alles auf, was die einschlägigen Archive hergeben – fragt sich nur: Für wen ist das eigentlich gedacht? Die Schüler:innen jedenfalls können mit diesen Inhalten kaum etwas für ihren Unterricht anfangen. Dafür bräuchten sie konkrete Hinweise und Beratung durch ihre Lehrer:innen. Diese wiederum haben aber weder die Zeit noch die Möglichkeit, das laufende Programm daraufhin zu checken, ob und wie dieses für den jeweiligen Lehrplan sinnvoll verwendet werden könnte. Bleiben nur die Eltern. Ob es denen freilich gelingt, ihre Kinder für das – aus deren Sicht komplett überflüssige – Schulfernsehen zu begeistern, ist zu bezweifeln.

YouTube, Lernapps, Bildungslösungenplattfomen… Wer suchet, der findet

Tausende von EduTubern bei YouTube, hunderte von Lernapps in den diversen Stores, zig Lernplattformen und Programme wie Sofatutor, Bettermarks, Scoyo – dazu die einschlägigen Bildungsmedienserver der Bundesländer: Das Netz ist voll mit zum Teil hervorragendem Lern- und Bildungscontent, vom einfach gemachten Videotutorial über spielerische Test- und Lernapps bis hin zu komplexen, grafisch und mediendidaktisch aufwändigen Online-Lernangeboten. Doch was passt und wo findet das Schulkind zuhause genau das, was gerade im Deutsch-, Geo- oder Matheunterricht gefordert ist? Auch hierfür bräuchte es in erster Linie die Lehrer:innen, die sich als Coach und Lotsen im Dickicht der digitalen Bildungswelt verstehen. Die Realität ist freilich, dass genau diese „Nachmittags-Online-Bildungswelt“ nur den allerwenigsten Lehrer:innen in der Tiefe und Breite vertraut ist. Auf die Schnelle lässt sich jedenfalls bei dem Übermaß an Angeboten kaum etwas Sinnvolles herausdestillieren – zumal diese Angebote nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ höchst heterogen sind und überdies auch oftmals hinter der Bezahlschranke liegen.

Die digitalen Bildungsinfrastrukturen: Es lebe die Vielfalt

Wann, wenn nicht jetzt, schlägt die große Stunde der unterschiedlichen Landes-Schullösungen, von der „Lernwelt Saar“ über „mebis“ (Bayern) und „Lernsax“ (Sachsen) bis hin zum „Schulcampus“ (Rheinland-Pfalz) und zu den Schul-Cloud Lösungen in Brandenburg, Niedersachsen und Thüringen. Dazu kommen unzählige kommerzielle Einzellösungen mit ganz verschiedenen Funktionen für die Gestaltung des Unterrichts und die Kommunikation zwischen Schüler:innen und Lehrer:innen, wie z.B. das weitverbreitete „iServ“ oder „it’s learning“. Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang natürlich auch die verschiedenen Anwendungen von Microsoft und Apple, Google (z.B. G-Suite for Education) und Facebook (Whatsapp). Angesichts der immensen Vielfalt von nebeneinander existierenden Lösungen mit teilweise ähnlichen Features kann es nicht verwundern, dass Lehrer:innen sich schwer tun mit der Entscheidung für oder gegen bestimmte Anwendungen. Verständlich, dass sie jetzt recht willkürlich und pragmatisch eben das nutzen, was ihnen bekannt ist und sich irgendwie anbietet. Als Schüler:in muss man allerdings immer damit rechnen, auf den unterschiedlichsten Wegen kontaktiert zu werden: Hier ein Arbeitsblatt per E-Mail, dort per Whatsapp, hier eine Aufgabe im Moodle-System, dort ein PDF auf iServ. Jede/r Lehrer:in, jedes Fach, jede Schule machts auf ihre/seine Weise.

Hilflose Digital-Didaktik, oder: „Das PDF im Allzeithoch“

Das Mittel der Wahl im Online-Unterricht des Jahres 2020 heißt: PDF. Gerne auch abfotografierte Arbeitsblätter als JPG. Diese kann sich das Home-Schulkind dann in aller Ruhe ausdrucken (sofern die heimatliche Büroausstattung selbiges reibungslos erlaubt, was bei 20-seitigen Arbeitsblättern und mehreren Schulkindern zuhause durchaus nicht immer so gut funktioniert). Nach entsprechender Bearbeitung können die Zettel dann wiederum abfotografiert werden und/oder per E-Mail oder Fileserver hochgeladen werden. Sollten bei der Bearbeitung der Arbeitsblätter Fragen oder Unklarheiten entstehen, sind in erster Linie die Eltern im Home-Office gefordert. Die vom Schulkind mit Spannung erwarteten Korrekturen und Feedbacks seitens ihrer Lehrer:innen fallen – sofern sie überhaupt stattfinden – natürlich wiederum ganz unterschiedlich aus: Von Null-Rückmeldung über „gut gemacht“ bis „vielleicht findest du die drei Fehler selbst, ich konnte sie leider in dem Dokument nicht markieren“. Didaktische Settings jenseits von „PDF bearbeiten und wieder hochladen“ sind (bislang) eher selten – es dominiert das Festhalten an der aus dem Unterricht gewohnten Routinen, ja, selbst Vokabel-Tests werden als PDF verschickt, und das Diktat soll nun eben die Mama oder Schwester diktieren. Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, dass sich in den kommenden Wochen auch neue und soziale(re) Lernformen hier und da entwickeln.

Viele Bäume, aber kein Wald

Am schnellsten haben wohl die Communities digital affiner Lehrer:innen auf den Schul-Lock-Down reagiert. Schon am ersten Tag der Schulschließung gab es eine Fülle von guten Hinweisen auf Facebook und Twitter – auch von Bildungsanbietern und Verlagen, z.T. auch mit kostenlosen Angeboten für die Zeit der Corona-Krise. Allerdings ist es auch hier schwer, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen. Ein wenig Hilfestellung bieten Foren „von Lehrenden für Lehrende“, die sich schon seit Jahren etabliert haben, z.B. unter dem Hashtag „#twitterlehrerzimmer“. Trotzdem ist dies natürlich nur ein Sammelbecken für gute Ratschläge, die in ihrer Vielzahl eher verwirren als helfen. Auf eigene Faust auszuprobieren, was sich hiervon für den eigenen Unterricht eignet, ist extrem zeitaufwändig.

Was wir jetzt tun können

Es hat schon häufiger Situationen in Deutschland gegeben, in denen zunächst viele unkoordinierte Einzelmaßnahmen dominierten, dann aber die Beteiligten doch gemeinsame Handlungsmuster entwickelt haben und so zusammen an bündigen Lösungen gearbeitet haben. Dies war der Fall kurz nach der Wiedervereinigung, als es darum ging, in den neuen Bundesländern neue Verwaltungsstrukturen aufzubauen. Und so war es auch bei der Bewältigung des Flüchtlingsstroms.

Die Corona-Krise trifft Deutschland natürlich ungleich heftiger – und trotzdem ließen sich durch einige Maßnahmen auch dort bündige Lösungen für den jetzigen Schulnotstand finden.

  1. Schnell DigitalPakt-Mittel freigeben

Um jetzt schnell die technische Infrastruktur zu verbessern, sollte der Abruf für die Mittel aus dem DigitalPakt Schule deutlich vereinfacht werden. Bislang ist dieser (sinnvollerweise) an die Erstellung eines Medienkonzepts für jede Schule gekoppelt. Schon vor der Corona-Krise taten sich Schulverantwortliche hiermit schwer. Jetzt gilt es zunächst einmal, Lehrer:innen mit Geräten für das Home-Office auszustatten, z.B. mit Notebooks, Webcams, Software – und dies sollte schnell und unbürokratisch funktionieren.

  1. Content-Auswahl in Task Forces verlagern

In jedem Bundesland sollten Content-Arbeitsgruppen gebildet werden, in denen Lehrer:innen, Inhalte-Anbieter, Vertreter der Landeslösungen und Bildungsmedienserver etc. die vorhandenen Lerninhalte für die einzelnen Fächer und Klassenstufen sichten sollten – hierzu sollten sie (über Social Media) die zurzeit verwendeten Inhalte von den Lehrenden abfragen. Aus den als besonders hilfreich erachteten Lernressourcen sollte eine Content-Empfehlungsliste zusammengestellt werden. Es wäre auch möglich, diese Inhalte auf den jeweiligen Plattformen bereitzustellen.

  1. Einfache Lernplattformen für alle

Für alle Schulen, die bisher noch keine Content- und Kommunikationsinfrastruktur nutzen, sollten schnell Lernmanagementsysteme als White-Label-Lösung angeboten werden, das könnte u.a. auch die HPI Schul-Cloud sein, die bereits einen Notfallplan hierfür eingesetzt hat. Es würde genügen, hier Inhalte für die einzelnen Fächer und Jahrgangsstufen bereitzustellen und Schüler:innen über Nicknames in Lerngruppen zu registrieren. Die Liste mit Nicknames und Klarnamen könnten die Lehrer:innen selbst verwalten. So können sie in datengeschützten Räumen miteinander kommunizieren und wären nicht auf externe Messaging-Gruppen wie Whatsapp angewiesen. Die Systeme sollten selbstverständlich auf allen mobilen Endgeräten lauffähig sein.

  1. Ein Vademecum für alle Lehrer:innen

Was Lehrer:innen jetzt benötigen, sind vor allem einfache und griffige Hilfestellungen. Jedes Bundesland könnte für seine Lehrer:innen ein ca. 30-seitiges Manual herausgeben, in dem übersichtlich Hinweise für eine „Online-Didaktik“, für die Aufbereitung des Lernmaterials (jenseits von Foto und PDF), zur besseren Kommunikation mit den Schüler:innen jenseits von Whatsapp und zur besseren Portionierung der Aufgabenstellungen geliefert werden. Jeder Hinweis wird verlinkt mit vertiefendem Material, um sich weiter mit dem Thema zu beschäftigen. Auf diese Weise würde eine weitgehend einheitliche Vorgehensweise bei den neuen Formen des Distance Learnings erreicht. Und möglicherweise nutzt ja der ein oder die andere Lehrer:in auch einschlägige Online-Fortbildungsangebote, wie z.B. Fobizz, um sich dort technologisch und didaktisch etwas upzuskillen.

Und wer weiß: Vielleicht haben einige dieser Lösungen und Skills ja auch noch lange nach der Corona-Krise Bestand.

 

Von: Dr. Ulrich Schmid und Dr. Lutz Goertz